Rügen, Kreideküste (Mecklenburg-Vorpommern)

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Die berühmte weiße Kreideküste auf der Insel Rügen besteht aus Kalkmergeln der Kreidezeit. Sie wurden vor ungefähr 70 Millionen Jahren in einem kühlen Flachmeer gebildet und bestehen zum größten Teil aus mikroskopisch kleinen Kalkplättchen, mit denen sich einzellige Algen (Coccolithen) umgaben. Während der letzten Eiszeit wurden die Kreidekalke zusammen mit den auf ihnen abgelagerten Gletschersedimenten durch die Gletscher zusammengedrückt und in Schuppen zerlegt, die dachziegelartig aufeinander geschoben und verfaltet wurden.

Die im 3D-Modell gezeigten Wissower Klinken sind Teil der Steilküste Rügens und schon seit langer Zeit ein Besuchermagnet. Sie sind aber auch gleichzeitig ein Symbol für Naturgefahren an den norddeutschen Steilküsten durch Kliffabbrüche und Rutschungen. Im Jahr 2005 wurden die bis dahin noch steil aufragenden Klinken zu einem großen Teil durch den Küstenabbruch zerstört.

Die Rügener Kreideküste befindet sich im kleinsten Nationalpark Deutschlands, dem Nationalpark Jasmund. Er wurde 1990 vor allem auf Betreiben des Alternativen Nobelpreisträgers (1997) Prof. Michael Succow aus Greifswald und seinen Mitstreitern Hans Dieter Knapp, Lutz Reichhoff, Matthias Freude und Lebrecht Jeschke eingerichtet. Der facettenreiche Nationalpark mit seiner imposanten Kreideküste ist für viele ein beliebtes Ausflugsziel. Darüber hinaus ist die Region heute wie damals ein Ort der Inspiration in Literatur und Kunst. Eines der bekanntesten Werke ist das Gemälde „Kreidefelsen auf Rügen“ (Abb. 1) von Caspar David Friedrich (1774-1840). Die Zinnen, die Friedrich 1818 malte, würden wir heute aber mit hoher Wahrscheinlichkeit in dieser Form nicht mehr antreffen. Insbesondere die Wissower Klinken sind ein Symbol für die natürliche Veränderlichkeit und die Geogefahren an den norddeutschen Steilküsten geworden. Im Jahr 2005 (GHK 10) verlor Rügens Kreideküste mit dem Abbruch der Wissower Klinken eines seiner wichtigsten Wahrzeichen. Auch wenn die Wissower Klinken nicht mehr als die ursprünglichen Zinnen zu sehen sind, bleiben sie ein Besuchermagnet und wichtiger Gegenstand geowissenschaftlicher Untersuchungen.

Die Entstehung der Insel Rügen

As uns Herrgott de Welt schaffen ded un binah dormit farig wir, stunn he eenes Abends so kort vör Sünnenunnergang up Bornholm un keek von hier ut nah de pommersche Küst räwer. Bi em leg de Muurerkell un de grote Moll, in de äwer man blot noch’n lütt bäten Ird öwrig wir, denn he harr all den ganzen Dag arbeit’t.

As he nu so äwer dat Water wegkeek, schient em de pommersche Küst doch gor to kahl to sin; em dücht, so’n bäten müßt dor wol noch an dan warden. He namm also dat letzte ut de Moll un klackt dat von Bornholm ut an de Küst ran, äwer dat kem nich ganz ranne. So ungefihr ´ne Miel vörto feel dat int Water, un so entstünn de Hauptdeel von Rügen. Uns Herrgott fohrt gliek noch ees mit de Kell an de Kanten entlang un makt se nah buuten to hübsch glatt un rund, un so würr Rügen am Enn‘ grad so’ne Insel worden sin, as all de annern ok sünd.

Intwischen wir de Sünn äwer binah ganz unnergahn, un uns Herrgott wull Fierabend maken. Dorüm  kratzt und schrapt he noch fixing alls tosamen, wat in de Moll anbackt wir, un wiel he keen bätere Verwendung dorför harr, klackt he dat ook noch an de Insel ran.

So entstünn Jasmund un Wittow. Dat seech zworst’n bäten ruuch ut, äwer uns Herrgott dacht: „Nu is Fierabend, un nu lat’t man so wäsen, as’t is.“

So is’t kamen, dat Rügen bet up’n hütigen Dag nah Nurden und Nurdosten to so bunt un terräten utsüht.

(Burkhardt, 1957)

Abb. 1 Links: Gemälde „Kreidefelsen auf Rügen“ von Caspar David Friedrich, 1818; rechts: nachgestellte Szene am Ostkliff von Jasmund, über 200 Jahre später.

Rügens geologische Entwicklung in der Kreidezeit

Aus der Sicht der Geowissenschaften ist die Kreideküste natürlich nicht dem Einwirken übernatürlicher Kräfte, sondern dem Zusammenspiel verschiedener geologischer Prozesse zu verdanken.

Die Steilküste der Halbinsel Jasmund im Nordosten Rügens setzt sich aus einer Abfolge von Sedimentgesteinen zusammen, die im unteren Teil aus weißen Kalkmergeln aufgebaut sind. Dieses besonders weiche Gestein wurde wegen seiner Eigenschaften früher oft als Tafelkreide verwendet, weshalb es auch Schreibkreide genannt wird.  Es stammt aus der Kreidezeit, genauer aus dem unteren Maastrichtium, und ist ungefähr 70 Millionen Jahre alt.

In der späten Kreide war ganz Norddeutschland von einem bis zu 200 m tiefen, kühlen Flachmeer bedeckt, in dem vor allem Kalkalgen zur Produktion der mächtigen Sedimente beigetragen haben (Abb. 2; Meschede, 2018). Diese einzelligen Algen aus der Ordnung der Coccolithophorida (Abb. 2) umgaben ihren Zellkörper mit nur wenige Mikrometer (1 μ = 1/1000 mm) großen Calcitplättchen (Coccolithen). Als die Algen abstarben, fielen die kugeligen Gebilde auseinander und die Coccolithen bildeten die Grundmasse der feinkörnigen Kalkablagerungen. Die Schreibkreide ist diagenetisch nicht stark verfestigt und so weich, dass sie sich im feuchten Zustand mit dem Messer schneiden lässt. In der kalkigen Grundmasse finden sich oft auch die Reste größerer Organismen wie z.B. Seeigel, Brachiopoden, Schwämme, Muscheln, Belemniten oder Ammoniten. Diagenetisch entstanden in den Kalken Horizonte mit Feuersteinen (synonym auch Flint genannt; siehe auch Steinich, 1972), die als knollige Formen oder in Lagen ausgebildet sind. Sie bestehen aus SiO2 in Form von kryptokristallinem Quarz, d.h. die Kristallinität ist nur bei sehr großer Vergrößerung unter dem Mikroskop erkennbar. Diese Feuersteine säumen heute das Ufer entlang der Kreideküste. Sie sind deutlich widerstandsfähiger gegen die Brandung des Meeres als die weichen Kalke, die durch die Erosion sehr schnell zerkleinert und wegtransportiert werden.

Abb. 2 Paläogeographische Rekonstruktion Mitteleuropas zur Zeit der Oberkreide (verändert nach Meschede, 2018), Rügen im roten Kreis hervorgehoben. Oben links: Elektronenmikroskopische Aufnahme einer Kalkalge (Coccolithophorida), Emiliania huxleyi. Der Balken im Bild entspricht 1/1000 mm (Taylor, 2011).

Die Überprägung Rügens durch den Skandinavischen Eisschild im Quartär

Die Schreibkreide des Maastrichtiums wird mitunter diskordant von quartären Lockersedimenten überlagert, die während der letzten Vereisungsphasen entstanden sind (zwischen 140.000 und 12.000 Jahren vor heute). An der Ostküste der Halbinsel Jasmund bilden diese Ablagerungen eine Sequenz aus mindestens drei Geschiebemergeln (M1, M2, M3) und glazigenen Zwischensedimenten (I1, I2) aus Ton, Silt, Sand und Kies, die glazifluviatilen oder glazilimnischen Ursprungs sind (Abb. 3).

Abb. 3 Stratigraphische Abfolge der Sedimente entlang der Kreideküste von Rügen (verändert nach Gehrmann et al., 2017).

Die Kreideablagerungen und glazigenen Sedimente von Jasmund sind in der jüngeren Erdgeschichte durch einen weiteren geologisch wichtigen Prozess beeinflusst worden – der Glazitektonik. Dabei handelt es sich um Deformationen von Gesteinsabfolgen, die durch Gletscherbewegung verursacht werden. Die kreidezeitlichen und quartären Sedimente sind während des Weichselglazials durch vorstoßende Gletscher in ihrem Randbereich in einer großen Anzahl von Schuppen dachziegelartig aufeinander geschoben und verfaltet worden. Die Gesamtstruktur Jasmunds zeigt einen Falten- und Überschiebungsgürtel in einem Maßstab, der deutlich kleiner ist als es von Orogenen bekannt ist (Abb. 4; Gehrmann, 2020). Über den gestapelten und deformierten Einheiten liegt wiederum diskordant ein Geschiebemergelkomplex (M3) des jüngsten Abschnitts des Weichselglazials (Abb. 3). Dieser ist nicht in die großräumige glazitektonische Bewegung einbezogen worden. Somit lässt sich die glaziale Deformation dem sogenannten Pommern-Stadium zuordnen. Das ist der Abschnitt nach dem letzten glazialen Maximum vor ca. 22.000 bis 20.000 Jahren, aber vor dem jüngsten lokalen Gletschervorstoß (Mecklenburg-Stadium, ca. 17.000 bis 15.000 Jahre) der Weichselkaltzeit (z.B. Müller & Obst, 2006; Litt et al., 2007; Kenzler et al., 2010; 2015; Börner et al., 2019).

Modellierungen und die Rückabwicklung geologischer Profilschnitte haben ergeben, dass vor allem die Wissower Klinken in einem glazitektonisch brisanten Bereich liegen. In ihrem Strukturbau sind vermutlich drei glazitektonische Deformationsstadien gespeichert (Gehrmann & Harding 2018, siehe auch Modelle von Groth, 2003 und Ludwig, 2011). Diese sind auf lokale Vorstöße von Gletscherloben zurückzuführen, die alle unterschiedliche Bewegungsmuster aufweisen. Die strukturellen Anomalien im Bereich der Wissower Klinken und die Morphologie Jasmunds spiegeln einen ersten Eisschub aus Nordosten, einen zweiten aus Südosten und einen dritten aus eher östlicher Richtung wider.

Abb. 4 3D-Darstellung des Jasmunder glazitektonischen Komplexes (verändert nach Gehrmann, 2020).

3D-Modelle

Ein hochaufgelöstes, wissenschaftlich nutzbares Model gibt es auf V³Geo.

Impressionen

Schriftenverzeichnis

Börner, A., Gehrmann, A., Hüneke, H., Kenzler, M., Lorenz, S. (2019): The Quaternary sequence of Mecklenburg-Western Pomerania: areas of specific interest and ongoing investigations. – DEUQUA Special Publications, 2: 1-10, https://doi.org/10.5194/deuquasp-2-1-2019.

Burkhardt, A. (1957): Sagen und Märchen der Insel Rügen. – Altberliner Verlag Lucie Groszer, Berlin.

Gehrmann, A. (2020): The multistage structural development of the Upper Weichselian Jasmund Glacitectonic Complex (Rügen, NE Germany) – E & G Quaternary Science Journal, 69: 59-60, https://doi.org/10.5194/egqsj-69-59-2020.

Gehrmann, A. & Harding, C. (2018): Geomorphological Mapping and Spatial Analyses of an Upper Weichselian Glacitectonic Complex based on LiDAR Data, Jasmund Peninsula (NE Rügen), Germany. – Geosciences, 8(6), 208, https://doi.org/10.3390/geosciences8060208.

GHK 10 (2013): Gefahrenhinweiskarte von Mecklenburg-Vorpommern 1: 10 000: Massenbewegungen auf Jasmund/Rügen. – Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie Mecklenburg-Vorpommern/Geologischer Dienst, Güstrow.

Groth, K. (2003): Zur glazitektonischen Entwicklung der Stauchmoräne Jasmund/Rügen. – Schriftenreihe des Landesamtes für Umwelt, Naturschutz und Geologie Mecklenburg-Vorpommern,3: 39-49.

Kenzler, M., Obst, K., Hüneke, H., Schütze, K. (2010): Glazitektonische Deformation der kretazischen und pleistozänen Sedimente an der Steilküste von Jasmund nördlich des Königsstuhls (Rügen). – Brandenburgische Geowissenschaftliche Beiträge, 17: 107-122.

Kenzler. M., Tsukamoto, S., Meng, S., Thiel, C., Frechen, M., Hüneke, H. (2015): Luminescence dating of Weichselian interstadial sediments from the German Baltic Sea coast. – Quaternary Geochronology, 30: 251-256, https://doi.org/10.1016/j.quageo.2015.05.015.

Litt, T., Behre, K.-E., Meyer, K.-D. (2007): Stratigraphische Begriffe für das Quartär des norddeutschen Vereisungsgebietes. – Eiszeitalter und Gegenwart, 56: 7-65.

Ludwig, A. O. (2011): Zwei markante Stauchmoränen: Peski/Belorussland und Jasmund, Ostseeinsel Rügen/Nordostdeutschland – Gemeinsame Merkmale und Unterschiede. – E & G, Quaternary Science Journal, 60(4): 464-487.

Meschede, M. (2018): Geologie Deutschlands. Ein prozessorientierter Ansatz. – 249 S., 2. Auflage (1. Auflage 2015), Springer-Spektrum, Berlin-Heidelberg.

Müller, U. & Obst, K. (2006): Lithostratigraphie und Lagerungsverhältnisse der pleistozänen Schichten im Gebiet von Lohme (Jasmund/Rügen). – Zeitschrift für geologische Wissenschaften, 34: 39-54.

Steinich, G. (1972): Endogene Tektonik in den Unter-Maastricht-Vorkommen auf Jasmund (Rügen). – Geologie, 20, Supplement 71/72: 1-207.

Taylor (2011): A scanning electron micrograph of a single coccolithophore cell. – PLOS Biology, June 7.

Wir danken dem Nationalparkamt Vorpommern und Dr. Ingolf Stodian (Nationalpark Jasmund) für die gute Zusammenarbeit und die Genehmigung, unsere Arbeiten im Nationalpark durchzuführen.

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